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Title
Cold War Freud. Psychoanalysis in an Age of Catastrophes


Author(s)
Herzog, Dagmar
Published
Cambridge 2017: Cambridge University Press
Extent
311 S.
Price
£ 24,99
URL
by
Florian G. Mildenberger

Wissenschaftliche Theorien und therapeutische Konzepte sind Produkte ihrer Zeit. Sie entwickeln sich weiter, gerade nach dem Tode ihrer Entdecker – oder sie diffundieren. Die Psychoanalyse, von Sigmund Freud in Wien vor 1914 begründet, war schon zu seinen Lebzeiten Spaltungen und Neuausrichtungen ausgesetzt. Nach dem Tode Freuds und zahlreicher Weggefährten und infolge des Zwangs, sich fernab der ursprünglichen Resonanzebene und regionalen Verortung in Mitteleuropa völlig neu zu orientieren, veränderten sich Gestalt, Inhalt und Absicht der Psychoanalyse aber noch stärker. Die an der City University of New York lehrende Historikerin Dagmar Herzog schildert in sechs Kapiteln an schaulich, wie und warum die nordamerikanische Psychoanalyse sich sukzessive von zahlreichen Grundannahmen Freuds emanzipierte, ohne dabei aber die therapeutischen Wege aufzugeben.

Die Psychoanalyse Freuds war mehr als Psychotherapie. Es handelte sich um ein sexualemanzipatorisches Projekt, getragen von jüdischen Akteuren, die kritische Sozialanalyse, häufig aufgeladen mit marxistischen Akzenten, in ihre theoretische und praktische Arbeit einfliessen liessen. Wie Herzog verdeutlicht, waren diese Inhalte nicht geeignet, in einem von Kommunistenfurcht und latentem Rassismus geprägten Nachkriegsamerika Zustimmung bei Behörden, Patienten oder Meinungsmachern zu erlangen. Freuds Biograph und selbst ernannter Nachlassverwalter Ernest Jones war es, der gemeinsam mit einer Reihe von Anhängern die Sozialkritik aus der Analytik verbannte und zusätzlich die sexualemanzipatorischen Aspekte in den Hintergrund rückte. So verwandelte sich die mitteleuropäische Psychoanalyse in ein psychotherapeutisches Behandlungskonzept für interessierte Patienten, denen das Leben in den Metropolen der USA so erträglich wie möglich gemacht werden sollte, ohne dabei die Grundlagen einer eventuell neurosenfördernden Geschlechterordnung zu berühren. Günstig für die gesellschaftliche Akzeptanz der Psychoanalyse wirkte sich das Diktum von Papst Pius XII. aus dem Jahre 1952 aus, wonach die Psychoanalyse wertvolle Aspekte enthalte – sofern die Sexualität nicht ins Zentrum der Betrachtung gerückt werde. So wurde nun insbesondere die von Sigmund Freud bereits 1905 in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie entpathologisierend konnotierte Homosexualität wieder zu einer krankhaften und analytisch therapierbaren geistigen Störung stilisiert. Dabei beriefen sich Freuds amerikanische Epigonen explizit auf den Gründervater. Durch diese Festlegung katapultierten sich die Analytiker hinein in die psychiatrische scientific community, die sich zur gleichen Zeit mit den empirischen Forschungsergebnissen eines Alfred Kinsey konfrontiert sah. Diese liessen keinen Zweifel daran, dass Homosexualität mitnichten ein klar zu definierendes pathologisches Problem war, sondern eine gewöhnliche Variation des menschlichen Sexuallebens. Es dauerte Jahrzehnte, bis eine neue Generation von Analytikern zu Beginn der 1970er Jahre – in einem günstigen gesellschaftlichen Klima – mit den ideologischen Vorgaben ihrer eigenen Lehrer brach. Dagmar Herzog beschreibt detailliert, wie «Bewahrer» und «Erneuerer» sich als Gralshüter der ursprünglichen, freudianischen Psychoanalyse fühlten und verschiedene Zitate oder Einlassungen Freuds für sich neu interpretierten. Diese Neuverankerung der Psychoanalyse war keine Angelegenheit, die innerhalb weniger Monate vollbracht worden wäre. Stattdessen dauerten die Diskussionen bis in die späten 1980er und frühen 1990er Jahre an. Namen wie Irving Bieber oder Charles Socarides stehen für die vorgeblich «orthodoxe» Psychoanalyse, die doch nichts anderes war als ein nordamerikanisches Konjunkturprodukt der 1950er Jahre. Dass jede Form sexueller Betätigung den Keim der Perversion in sich trägt und somit jede normative Festlegung einer «analytischen» Grundlage entbehrt, arbeitete allein Robert Stoller heraus, dessen Arbeit von Herzog in vorzüglicher Weise dargestellt wird.

Herzog dienen die Debatten um die Homosexualität, um zu verdeutlichen, wie sich die Psychoanalyse in den amerikanischen Mainstream hineinarbeitete. Eigentlich hätten die Analytiker aufgrund ihrer konservativen Umorientierung Ende der 1960er Jahre wieder aus dem Zentrum des Diskurses verschwinden müssen. Doch gab es ein therapeutisch und gesellschaftlich problematisiertes Feld, auf dem sie höchst erfolgreich arbeiten konnten, als dieses Relevanz erfuhr. Dies wiederum gelang den Analytikern nur, weil sie sich ihrer europäischen Wurzeln besannen. Seit den 1950er Jahren zählten traumatisierte Opfer des Holocausts zu den treuen Patienten der Psychoanalyse. Ende der 1960er Jahre sah sich die amerikanische Öffentlichkeit und die klinische Psychiatrie plötzlich mit Veteranen aus dem Vietnamkrieg konfrontiert, die scheinbar keine somatisch definierbaren, psychisch aber deutlich erkennbare Schädigungen davongetragen hatten. Die an derartige Phänomene und Krankheitsbilder gewöhnten Psychoanalytiker konnten sich nun bei der Behandlung von Patienten auszeichnen, die unter dem neu definierten Post-Traumatic Stress Disorder (PTSD) litten. Denn PTSD konnte durch bloss kurzzeitige Therapien nicht behandelt werden. Vielmehr benötigten die Patienten eine langjährige Betreuung, in die auch das Problem des Umgangs mit Aggressionen und des Einflusses auf das Sexualleben einfloss. Die nordamerikanischen Analytiker integrierten nun das durch den Nobelpreis 1973 geadelte Theoriekonzept von Freuds Landsmann Konrad Lorenz in die eigene Arbeit. Am Rande dieser Neuorientierung der Psychoanalyse hin zur Untersuchung und Einordnung von Triebverhalten, Aggressionstrieben und dem Verhalten gegenüber neuen Patientenschichten konnten sich wieder – wie einst zu Lebzeiten des Gründervaters – gesellschaftskritische und sozialreformerische Denkmodelle etablieren. So entwickelten französische und Schweizer Analytiker in den 1970er Jahren die Ethnopsychoanalyse, während in Nordamerika interessierte Gelehrte den einst von Freud selbst verstossenen Wilhelm Reich wiederentdeckten.

So ergibt sich ein rundes Bild. Herzog hat ein herausragendes Buch vorgelegt, an dem es nur wenig zu kritisieren gibt. Das Fehlen eines Literaturverzeichnisses gehört ebenso dazu wie die Ausklammerung der Forschungen derjenigen Abspaltung der Psychoanalyse, die im Nationalsozialismus zu Erfolg gelangte. Ihre Akteure waren führend auf dem Gebiet der «Homosexuellenforschung» und sie wurden nach 1945 keineswegs ignoriert, wie beispielsweise die Psychologiehistorikerin Regine Lockot herausgearbeitet hat.1 Es wäre interessant gewesen zu erfahren, ob und inwieweit die Homophobie der NS-Analytiker Einfluss auf die Neuorientierung der nordamerikanischen Analyse hatte. Doch diese Kritikpunkte ändern nichts am Wert von Herzogs Buch insgesamt.

1 Regine Lockot, Die Reinigung der Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitzeugen (1933–1951), Giessen 2013,
S. 180.

Zitierweise:
Florian G. Mildenberger: Rezension zu: Dagmar Herzog, Cold War Freud. Psychoanalysis in an Age of Catastrophes, Cambridge: Cambridge University Press, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 523-525.